Der Verlust an biologischer Vielfalt in Binnengewässern ist besorgniserregend. In bislang einzigartigen Experimenten, in denen mehrere komplette Gewässer in Niedersachsen samt ihrerUferzonen untersucht wurden, hat ein Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und in Kooperation mit der Hochschule Bremen (HSB) eine Vielzahl von Seen ökologisch aufgewertet. Dabei haben die Forschenden eng mit dem Anglerverband in Niedersachsen zusammengearbeitet. Die Fische profitierten von den Verbesserungen der Lebensräume, nicht jedoch vom Fischbesatz. Die im renommierten Fachmagazin „Science“ veröffentlichte Studie unterstreicht die Wichtigkeit der Renaturierung und Schaffung natürlicher Prozesse – sowohl für den Artenschutz als auch für die Fischerei.
Die Biodiversität nimmt rasant ab. Viele Schutzkonzepte sind auf die Förderung einzelner Arten ausgelegt. Ein alternativer Ansatz ist die Wiederherstellung ökologischer Rahmenbedingungen, die ganzen Lebensgemeinschaften zugutekommen. Dieses sogenannte Ökosystem-basierte Management ist selten, nicht zuletzt aus Kostengründen. Auch mangelt es an überzeugenden Belegen, dass der umfassende Gewässerschutz effektiver ist als für viele Menschen offensichtliche Alternativen wie das
Wichtiges Lehrstück für erfolgreichen Fischpopulationsschutz an Gewässern
Nun hat das Berliner Forschungsteam mit HSB-Professor Thomas Klefoth und in enger Zusammenarbeit mit dem Anglerverband Niedersachsen eine Studie im Rahmen des Projekts BAGGERSEE vorgelegt: In einer laut Forschenden bislang weltweit einzigartigen experimentellen Ganzseestudie – also einer Studie, in der komplette Seen mitsamt ihrer Uferzonen untersucht wurden – forschten Wissenschaftler:innen, Angler:innen und weitere engagierte Menschen aus dem Verband gemeinsam über sechs Jahre. Sie erprobten Maßnahmen zur Lebensraumaufwertung und Fischbesatz in 20 Baggerseen in Niedersachsen. In einigen Seen wurden zusätzliche Flachwasserzonen geschaffen. In anderen wurden Totholzbündel zur Steigerung der Strukturvielfalt eingebracht. In weitere Versuchsgewässer wurden fünf von der Fischerei begehrte Fischarten besetzt, unveränderte Kontrollseen dienten als Vergleich. Insgesamt gingen über 150.000 Fische in die Untersuchung ein.
Das Kernergebnis des Forschungsprojekts: Nur die Schaffung der Flachwasserzonen steigerte die Fischbestände nachhaltig. Diese Zonen sind für viele Fischarten ökologisch essenziell, vor allem als Laichort und für den Aufwuchs von Jungfischen. Das Einbringen von Totholz hatte nur in einzelnen Gewässern positive Effekte, der Fischbesatz verfehlte sein Ziel gänzlich. „Die Wiederherstellung zentraler ökologischer Prozesse und Lebensräume, sogenanntes Ökosystem-basiertes Lebensraummanagement, kann den Schutz und die Förderung von Fischbeständen nachhaltiger gewährleisten als eng gefasste, auf einzelne Arten ausgerichtete Maßnahmen wie Fischbesatz“, erklärt Johannes Radinger vom IGB, Hauptautor der Studie.
Laut der beteiligten Forschenden wurden noch nie Fischgemeinschaften in derart umfassenden Ganzseeexperimenten unter Einbezug einer Vielzahl von Angelvereinen und anderen Praxisakteur:innen untersucht. Biologieprofessor der Hochschule Bremen und Mitinitiator des Projekts prof. Dr. Thomas Klefoth: „Erst die Durchführung von sogenannten Bewirtschaftungsexperimenten unter natürlichen Bedingungen in Gewässern erlaubt verlässliche Aussagen über den Erfolg und den Misserfolg einzelner Artenschutzmaßnahmen, weil so im Unterschied zu Laborstudien die Komplexität ökologischer und sozialer Wechselbeziehungen abgebildet wird.“ Dr. Robert Arlinghaus der Humboldt-Universität zu Berlin resümiert: „Mehrere Baggerseen gleichzeitig in den Versuch einzubeziehen, war nur in enger Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis möglich. Die Kooperation auf Augenhöhe hat zum Umdenken in Bezug auf Fischbesatz beigetragen und die Akzeptanz nachhaltigerer Managementalternativen gefördert, die die Lebensräume in den Blick nehmen“, sagt der Wissenschaftler für Integratives Fischereimanagement der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei.
Die Studie hat zwei wichtige Botschaften: Die Wiederherstellung ökologischer Prozesse hat nachhaltigere Wirkung auf die Lebensgemeinschaften und Arten als der enge Fokus auf den Schutz einzelner Arten. Auch funktioniert Gewässerschutz besonders gut, wenn Gewässernutzungsgruppen hpwie Angelvereine selbstständig aktiv werden und in ihren Bemühungen von Behörden, Verbänden und der Wissenschaft unterstützt werden. Naturschutz und Naturnutzung können so harmonisiert werden, da sowohl die Arten als auch die Fischerei und Angelfischerei von der Gewässeraufwertung profitieren.
BAGGERSEE ist ein Gemeinschaftsprojekt des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), des Anglerverbands Niedersachsen e. V. (AVN) und der Technischen Universität Berlin (TU), in Kooperation mit der Hochschule Bremen (HSB). Das Forschungs- und Umsetzungsprojekt wurde bis Ende 2022 gefördert im Rahmen der gemeinsamen Förderinitiative „Forschung zur Umsetzung der Nationalen Biodiversitätsstrategie“ durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie das Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV). Koordinator ist Prof. Dr. Robert Arlinghaus vom IGB und der Humboldt-Universität zu Berlin (HU).