Dr. Thomas Felis, Koordinator eines DFG-Schwerpunktprogramms; MARUM, Universität Bremen
Prof. Dr. Claudia Stolle, Hochschule Bremen
Prof. Dr. Hannah von Grönheim, Hochschule Bremerhaven
Prof. Dr. Eva Quante-Brandt, Universität Bremen
Dr. Henrike Müller, Fraktionsvorsitzende der Grünen
Moderation: Anneliese Niehoff, Referatsleitung Chancengleichheit/Antidiskriminierung in der Universität Bremen
I Strukturelle Herausforderungen
Prof. Dr. Eva Quante-Brandt: Nicht-Thematisierung im Bereich Promovierenden-Förderung
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Leitung des Mentoring-Programms des Forschungsclusters "Gesunde Stadt Bremen: interprofessionell, digital, nachhaltig
- Im Kontext der Promovierendenförderung wird Care-Arbeit nicht thematisiert und ist schwer sichtbar zu machen, wird nicht geäußert als Anforderung an Universität
- Z.B. im ProMentes-Programm (berufsorientierende Mentoring-Programm) ist Frage nach Kindern und Kinderwunsch nicht struktureller Bestandteil und wurde noch nicht als Bedarf genannt
- Auch im Forschungscluster gesunde Stadt noch nicht Bestandteil, müsste darum gehen, was für Promovierende strukturell getan werden kann, bisher werden Vereinbarkeiten in kleinem Kreis erörtert
Dr. Thomas Felis: Aus der Perspektive der Koordination
Koordinator DFG-Schwerpunktprogramm "Tropische Klimavariabilität & Korallenriffe"
- Als Koordinator geht es immer auch um Kinderbetreuung und Care-Tätigkeit für Pflegende, für Promovierende und Postdocs
- Mit Kindern wird akademischer Alltag komplizierter; Gremienarbeiten, Lehrverpflichtungen, Sichtbarkeit geht zurück, da u.a. internationale Konferenzen und Treffen schwer besucht werden können und spontane Treffen sind ohne flexible Kinderbetreuung nicht möglich.
- Forscher*innen haben keine Vertretungen, damit bleiben Forschungsaufgaben liegen, verschieben sich auf später oder auf das Wochenende, was wiederum zu Mental Health-Problemen führt
- Bei Forschungsreisen von mehreren Wochen und Monaten gehen bei Kindern meist doch Männer und nicht Frauen auf das Schiff; dabei ist auch die Frage von sozialem, familiärem Umfeld als Ressource relevant, insbesondere bei internationalen Studierenden: „Wer keine Oma in der Nähe hat, kann nicht aufs Schiff.“
Prof. Dr. Claudia Stolle: Hidden Lives
Leitung Zentrum für Pflegeforschung und Beratung, Studiengangsleitung Internationaler Studiengang Pflege B.Sc., Projektleitung Study & Care - Fürsorge geben. Hilfe bekommen (04/2022 - 03/2023)
- Mit dem Schwerpunkt Langzeitpflege an der HSB wird Bereich beleuchtet, der sich langsam wandelt: Wenn von Care gesprochen wird, ist häufig Kinderbetreuung gemeint, Pflege von Angehörigen ist noch mehr tabuisiert
- Ausblick: 2030 ist deutschlandweit mit 6 Millionen Pflegebedürftigen zu rechnen, 2/3 der pflegebedürftigen Menschen werden von Angehörigen zu Hause versorgt. Dieser Bereich ist „ein ganz ganz dickes Brett, das morsch ist.“
- Bei Studierenden sind es 12%, die Angehörige pflegen; Studierende mit Kind, die ebenfalls Angehörige pflegen machen 5% aus: Dieser große Teil der Studierenden wird ausgeblendet
- Umfrage zu Studierenden mit Pflegeverantwortung an der HSB zeigt:
- Im Durchschnitt etwa 20 Stunden wöchentlich Pflegearbeit, neben Vollzeitstudium
- Studierende mit Pflegeverantwortung kommen nicht aus ihrem sozialen Netz heraus: die meisten wohnen bei den zu pflegenden Angehörigen, nach der Hochschule dorthin
- 1/3 der Befragten ist nicht sicher, ob sie den Abschluss schaffen: Unheimlich hohe Belastung durch Pflege: Konzentrationsschwächen, physische und psychische Probleme und finanzielle Sorgen
- Pflegende Studierende führen sogenannte „hidden lives“, nur selten wissen Mitstudierende oder Dozierende über die Pflegetätigkeit, man sieht und weiß es eigentlich nicht. Nur 50% der Studierenden legen das Pflegen von Angehörigen gegenüber Kommiliton*innen offen, nur 1/3 gegenüber Lehrenden.
- Warum ist das eigentlich so? Begründungen mit Kinderbetreuung wie geschlossene Kita o.ä. werden geäußert, nicht aber aus dem Kontext Pflege, z. B. zu Pflegediensten für demenzerkrankte Eltern
- Notwendigkeit, diese Normalität zu sehen und zu benennen, damit Pflegende darüber sprechen können
- Es sollte ein Normalzustand sein, über den gesellschaftlichen Auftrag der Fürsorge für Kinder und Angehörige zu sprechen
- Was steht hinter dem Tabu?
- Keine gute Erklärung dafür
- Studierende antworteten, dass sie Pflegeverantwortung nicht kommunizieren gegenüber Dozierende, z. B. um private Belange nicht in der Hochschule zu teilen oder aus Sorge sich durch die Übernahme von Pflegeverantwortung innerhalb der eigenen Familie unberechtigt Vorteile verschaffen zu wollen
Prof. Dr. Hannah von Grönheim: Kulturwandel
- Care-Arbeit und Betreuungszeiten werden in der Planung von Lehrveranstaltungen oft nicht berücksichtigt.
- Beispiel: Studiengang Soziale Arbeit an der Hochschule Bremerhaven, wegen Raummangel sollten Veranstaltungen am Abend und am Wochenende stattfinden, konnte abgewandt werden
- Struktur hat viel mit Kultur zu tun: Wenn ein Wandel gewünscht ist, hin zu Akzeptanz von Vereinbarkeit und deren Sichtbarkeit, ist zugleich ein Kulturwandel möglich
- Oftmals doppelte Belastung, da die Aushandlungen bzgl. Vereinbarkeit von Menschen mit Pflegeverantwortung geführt werden und über das Einsetzen für die eigenen Rechte hinaus, sich gegen (kulturell bedingte) Widerstände durchgesetzt werden muss
- Widerstände bedeuten dabei ein Potential zum Lernen: Woher kommt der Widerstand?
- Für alle anstrengend, im Kollegium, in der Hochschule
- Aber dieses anstrengende Lernen an Widerständen in Institutionen ist unbedingt notwendig, wenn man von der individuellen Ebene wegkommen möchte
- Sehr viel an kulturellem Wandel ist nötig
- Strukturelle Lösungen betreffen z. B. Fragen der Organisation (Lehre annährend in Betreuungszeiten), oder formaler Nachweise (Nachweispflichten von Pflege)
Dr. Henrike Müller: Vereinbarkeit als Thema von Wissenschaftspolitik
Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/DIE GRÜNEN in der Bremischen Bürgerschaft; Arbeitsmarktpolitik, Geschlechterpolitik, Öffentlicher Dienst, Religionspolitik, u.a. Ausschuss für die Gleichstellung der Frau (nur staatl.)
- Vereinbarkeits- und Care-Fragen werden in der Wissenschaftspolitik nicht thematisiert, sondern von gleichstellungspolitischen Sprecher*innen eingebracht
- Das ist eine Frage der Kultur, aber auch der Kenntnis, dass grundlegend Fragen guter Lehre und Forschung Fragen von Vereinbarkeit sind
- Damit verbunden z. B. Teilzeitstudiengänge
- Auch in Zielvereinbarungen der Landesregierung wird Vereinbarkeit kaum thematisiert, sollte dort aufgenommen und geprüft werden
- Aspekte von Vereinbarkeit in Akkreditierungsvereinbarungen als strukturelle Möglichkeit
II Maßnahmen zur Vereinbarkeit an Hochschulen
Prof. Dr. Eva Quante-Brandt
- Sichtbarkeit:
- Pflege wurde zu wenig thematisiert,
- Gruppe von Care-Verantwortlichen ohne familiäres Netz wurde bisher fast ganz ausgeschlossen, betrifft nicht nur internationale Studierende und Wissenschaftler*innen
- Unterstützungsstruktur:
- Diese brauchen nicht nur Bürokratieabbau, sondern Unterstützungssystem, z. B. in Antragsstellungen zum Lebensunterhalt
- Anerkennung und Feedback der doppelten Aufgabenbestellung von Kinderversorgung und Promotion
- Klare Formulierungen von Anforderungen und Sichtbarmachen der Unterstützungsstruktur
- Individuelle Unterstützungsmöglichkeiten durch Mentoring-Programme, zugeschnitten auf Care-Arbeitende, schaffen, Mentoring-Programm der Universität soll für Hochschulen im Land Bremen geöffnet werden
- Stärkung sozialer Anbindung und Absicherung von Care-Arbeitenden
- Rahmenbedingungen:
- Umgang mit Befristungen, z. B. im Rahmen von Wissenschaftszeitvertragsgesetz
- Verlängerungen müssen von betreuenden Personen getragen werden
- Hochschullehrende tragen Verantwortung für Care-Bedarf Studierender, nicht nur für wissenschaftliche Arbeit; diese Unterstützung sollte aber nicht an Lehrenden allein liegen
Prof. Dr. Hannah von Grönheim
- Vertretungsprofessuren für Elternzeitvertretung, wie in anderen Bundesländern
- Flexibilisierung von Prüfungsleitungen: Wahlmöglichkeiten eröffnen, auf Landes- und Hochschulebene
- Es entstehen Minusstunden wegen Ausfall aus Care-Arbeitsgründen
- Logik der Kinderfreibeträge in Form eines Stundenausgleichs in der Wissenschaft ermöglichen
- Keine Vertretungsregelungen in der Wissenschaft macht Nacharbeit notwendig
- potenziert sich in Anforderungen an HAW-Professuren mit 18 SWS Lehre, der Wandel hin zu Promotionsrecht macht auch strukturelle Anpassungen erforderlich: zu Lehre kommen zusätzlich Forschung und Publikation hinzu, wenn wir nicht wollen das Professor*innen mit Sorgeverantwortung im Burnout landen
- Kulturwandel auch im Kollegium, hin zu mehr Solidarität und Teamarbeit nötig, wie z. B. Vertretungen in Lehrveranstaltungen und übergangsweiser Übernahme von Aufgaben à Burnout-Prävention
- Andere Anforderungen an Studierende und Mitarbeitende mit Care-Verpflichtungen stellen?
Dr. Thomas Felis
- Kinder- du Pflegezeiten sollten auf Löhne angerechnet werden können: reduzierte Arbeitszeit bis zu 10% bei gleichbleibender Lohnfortzahlung
- Mobiles flexible Arbeit strukturell zu verankern ist wichtig, nicht abhängig von einzelnen Vorgesetzten
- Dabei Risiken mobiler Arbeit hinsichtlich Doppelbelastung mitbedenken
- Veranstaltungen hybrid und in Person ermöglichen
- Keine ausreichende Finanzierung von Mentoring-Programmen
Prof. Dr. Claudia Stolle
- bestehende Möglichkeiten sind individuell
- das Thema muss selbstverständlich werden, und kein Tabu
- hoher gesellschaftlicher Wert der Pflegearbeit muss Anerkennung und Sichtbarkeit finden
Dr. Barbara Rinken
- Roter Faden: Bedarf an Strukturveränderung, statt individuellen Lösungen
- Entschleunigung im Wissenschaftsbetrieb ist notwendig
- Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes
- Hochschulkulturwandel benötigt, in Zeiten von Ressourcenknappheit noch schwieriger
- Vorschlag für dauerhafte Vernetzung durch „Runden Tisch“ mit allen Statusgruppen und Politik für Arbeit an strukturellen Veränderungen
III Schlussrunde: Was nehmen Sie mit?
Prof. Dr. Eva Quante-Brandt
- Mentoring-Programm der Universität soll für Hochschulen im Land Bremen geöffnet werden
- Bestärkung Studierender, Beschäftigter und Promovierender, über das Thema zu sprechen und Forderungen an Politik zu verdeutlichen
- Frage: Habe ich selbst genug an Vereinbarkeit gedacht? Freistellungen statt Nacharbeiten im Kontext von Care-Belastung
- Errungenschaften der Gleichstellung verteidigen und weitertragen: Care-Arbeit nicht Privatangelegenheit, sondern öffentlicher Auftrag, dem rückschrittlichen politischen Diskurs in Sachen Geschlechtergerechtigkeit entgegenwirken
Dr. Thomas Felis
- Gelder für Gender- und Diversity-Bereiche verwenden
- Unterstützung durch Gleichstellungsstelle
- gute Unterstützung von DFG-Forschungsgemeinschaft
- Innovative Angebote machen
- außerhalb dieses Raumes kaum thematisiert,
- Vorangehen mit praktischen Beispielen
Dr. Henrike Müller
- Vereinbarkeitsfrage mit in den JoureFixe mit der Wissenschaftssenatorin
- Aber was benötigt ist, ist eine allgemeine Entschleunigung im Hochschulwesen
Prof. Dr. Claudia Stolle
- Gespräche mit Konrektorin Sabina Schoefer,
- Mehr Sichtbarkeit für Thematik schaffen und Angebote bekannt machen, damit es nicht an Individuen hängt wie z. B. Projekt zu Care an der HSB
Prof. Dr. Hannah von Grönheim
- Ins Gespräch gehen, Enttabuisieren mit Studierenden und Gremien an der Hochschule, als Frauenbeauftragte und Lehrende
- Studierende ermutigen auch untereinander solidarisch sein und als Professorin den Raum für einen solchen Austausch gestalten